„Digital Journalism Summit“ in London: Online-Leser: Loyalität statt Quantität


Wie Medienmacher Online-Leser gewinnen und monetarisieren


Beim „Digital Journalism Summit“ in London diskutierten Vertreter verschiedener Zeitschriften- und Zeitungsmarken, worauf es beim Auf- und Ausbau eines Online-Publikums mit Hinblick auf dessen Monetarisierung ankommt. Mit dem klaren Fazit: Dem Traffic hinterherjagen und auf Teufel komm raus Clickbait produzieren – diese Zeiten sind vorbei. Oder anders ausgedrückt: Wachstum ja, aber nur zielgerichtet und mit Fokus auf den Leser. Denn nur ein aktiviertes und involviertes Publikum ist dann auch bereit für Inhalte bzw. weiterführende Produkte und Angebote zu zahlen.




Strategisches Leserwachstum: Vogue mit Fokus auf Evergreen-Content
Sarah Marshall, die als Head of Audience Growth für die Entwicklung der Online-Leserschaft aller Vogue-Ausgaben weltweit verantwortlich ist, stellte als Teilnehmerin des Panels „How to Grow a Digital Audience“ die Definitionsfrage für das Wachstum einer digitalen Leserschaft – mit einer klaren Antwort: „Startpunkt müssen die übergeordneten strategischen Ziele der jeweiligen Organisation sind, seien es nun digitale Abonnenten oder die Vermarktung von Events. Davon ausgehend ist es dann unsere Aufgabe, die Leserschaft zu liefern, die das Unternehmen bei der Erreichung der kommerziellen Ziele unterstützt.“ Hintergrund: Wenn sich Qualitätsjournalismus im digitalen Raum über Anzeige nicht finanzieren lässt, werden die direkt über den Leser generierten Umsätze immer wichtiger. Diese Rechnung kann aber nur aufgehen, wenn der Kunde und seine Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen.
„Loyale Leser sind einer unserer drei KPIs, wenn es um das Wachstum des digitalen Publikums geht. Dabei definieren wir Nutzer als loyal, wenn sie mindestens vier Mal im Monat die Seite besuchen“, so Marshall. In diesem Zusammenhang spielen vor allem die sogenannten Evergreen-Inhalte, also Content, der über aktuelle Anlässe hinaus Wertigkeit hat und immer wieder Traffic generiert, eine große Rolle: „Evergreen-Content ist extrem wichtig für uns, genau wie die andauernde Verfeinerung von Inhalten, sobald sie online sind.“ Die KPIs sind Teil eines „7-Punkte-Plans“ für ein erfolgreiches Wachstum des Online-Publikums, den Marshall definiert hat. (den 7-Punkte-Plan findet ihr am Artikelende.

Strategisches Leserwachstum: Zielgerichtete Leserdatennutzung bei The Sun
Fokussiert und selektiv geht auch eine ganz andere Art von Medium bei der Lesergewinnung online vor: Die Sun beendete im November 2015 das Experiment „Paywall“ und ging von Bezahlinhalten wieder zu freiem Content über. Dennoch geht es auch bei dem Boulevardblatt nicht um Clicks um jeden Preis: „Die Frage ist nicht, wie man mehr digitale Leser gewinnt, sondern aus welchem Grund man das tut. Es muss sinnvoll sein und über die reine Trafficgenerierung hinausgehen“, so Keith Poole, Digital Editor der Sun. Dabei ginge es um Differenzierung und ein für den Leser klar erkennbares Profil („Man muss für etwas stehen“). Dazu gehört auch eine gezielte Auswahl von Themen, mit denen man bei Google auf Platz 1 landen möchte: „Man muss nicht bei allen Themen gewinnen, sondern eine Auswahl treffen.“
Wie dabei immer gilt: Wer Nutzer sinnvoll aktivieren und involvieren möchte, muss diese genau kennen und in den Mittelpunkt stellen. Bei der Sun ist die Online-Leserschaft jünger und weiblicher im Vergleich zum Printprodukt und „wir hören darauf, was diese Daten uns sagen. Daten sind für digitale Medien ein extrem wichtiges Tool und die Arbeit der Redakteure muss davon geprägt sein, darf sich allerdings auch nicht davon beherrschen lassen – wir veröffentlichen Geschichten, von denen wir glauben, dass unsere Leser sie hören sollten“, erläuterte Poole. Und: Die Inhalte müssen sinnvoll mit „Erfahrungen“ und Angeboten angereichert werden, für die Leser auch bereit sind in die Tasche zu greifen. So entwickelte die Sun z. B. im Sommer zu der in Großbritannien sehr erfolgreichen Reality-Sendung „Love Island“ ein begleitendes Spiel.

Distribution: Facebook immer noch im Spiel – News-Aggregatoren werden wichtiger
In jeder Diskussion zum Thema „Wie finden unsere Inhalte zum Publikum“ fällt unumgänglich früher oder später das Wort „Facebook“. So auch im Gespräch der britischen Medienmacher – mit der Kernaussage: Auch wenn die Konzentration auf die Plattform für die Trafficgenerierung vorbei ist, hat das soziale Netzwerk (noch) nicht in dem Maße an Bedeutung verloren, wie es in der Öffentlichkeit dargestellt wird: „Das der Facebook-Traffic-Boom vorbei ist, können wir nicht wirklich bestätigen“, so Luke Lewis, Head of Audience Development bei iNews. „Die über Facebook generierten Websitebesuche sind momentan sogar eher im Wachstum.“ Und der Vertreter der Sun berichtete von durchschnittlich 40% mehr Page Views, wenn Artikel auf Facebook Instant Articles gehostet werden.
Lewis wies in diesem Zusammenhang auch auf die zunehmende Bedeutung von News-Aggregatoren wie das Springer-Produkt Upday oder Flipboard hin: „Wir bekommen über Upday zwar nur 5 Prozent unseres Traffics; das ist allerdings sehr stabil, und wenn wir darüber reden, wie wir mehr Online-Leser generieren, müssen wir jetzt auch darüber nachdenken, wie wir mit diesen Plattformen arbeiten und Beziehungen mit ihnen unterhalten.“

Diversifizierte Monetarisierung: Mehr direkte Lesertransaktionen
Die Lage des digitalen Anzeigengeschäftes ist mehr als volatil und guter Journalismus kostet Geld. Was bedeutet, dass die mit zielgerichteten und hochwertigen journalistischen Inhalten aufgebaute loyale Onlineleserschaft auf die ein oder andere Weise auch zu Kasse gebeten werden muss. Im Rahmen des Panels „Monetising the Online Audience – Advertising and Beyond” wurde bei der Londoner Veranstaltung die zunehmende Bedeutung des „Beyond“ sehr klar. Vertreter der Telegraph Media Group, von News UK (The Times/Sunday Times und The Sun) und des Verbands der britischen Onlineverleger wiesen geschlossen darauf hin, wie unumgänglich es sein wird, über direkte Transaktionen mit dem Leser Einkünfte zu generieren – seien es nun digitale Abonnements oder der Verkauf von Produkten und Dienstleistungen, die um das Inhaltsgeschäft herumgebaut werden.
Gleichzeitig arbeitet die Branche daran, das Onlinewerbegeschäft auf Vordermann zu bringen. Britische Verlage setzen hier auf Kollaboration, um die Wettbewerbssituation mit den Plattformen Facebook, Google und – in Großbritannien inzwischen an dritter Stelle – Amazon zu verbessern: Im Sommer 2018 wurde das Projekt „Ozone“ mit zurzeit vier Verlagspartnern (Telegraph, Guardian, News UK, Reach) als gemeinsame Plattform zum Verkauf von Onlinewerbung ins Leben gerufen: „Anzeigenkunden können so an einer einzigen Stelle direkt digitales Inventar all unserer Partner in einem sicheren Umfeld von Premiummarken kaufen“, erläuterte Ben Walmsley, Digital Commercial Director bei News UK. Es gehe darum, für die Verlage gleiche Ausgangsbedingungen im Wettbewerb mit den Plattformgiganten zu schaffen, Werbekunden im Verbund Reichweite und eine einfache Handhabung zu bieten – und nicht zuletzt auch darum, die Kontrolle über die Daten zu behalten.

Bessere Nutzung von Leserdaten
Bei der cleveren Nutzung aller gesammelten Leserdaten sieht Walmsley bei den Verlagen im Hinblick auf neue Erlösquellen noch Handlungsbedarf: „Wir müssen uns noch mehr auf die Daten konzentrieren, um die User Journey besser zu verstehen und darauf basierend, Nutzwert und wirklich Wertvolles zu schaffen, d. h. es geht nicht nur um die Inhalte an sich, sondern um die gesamte Erfahrung, die Leser auf und mit unseren Plattformen haben.“ Eine Aussage, die auch Dora Michail, Managing Director Commercial Growth bei der Telegraph Media Group, bestätigte. Die konservative Tageszeitung vollzog im September 2017 einen digitalen Strategiewechsel von Free zu Paid Content und arbeitet zurzeit daran, bis 2023 das Ziel von 10 Millionen registrierten Nutzern und 1 Million zahlenden Abonnenten zu erreichen:
„Wir sind bisher sehr zufrieden mit dem Verlauf. Jetzt geht es darum zu verstehen, was unsere eingeloggten Leser am liebsten lesen und wie sei sich innerhalb des ‘Telegraph Universums‘ bewegen, um auf der Basis passende kommerzielle Produkte anbieten und bessere Werbung liefern zu können.“ Der Telegraph verkauft bereits Reisen und Finanzlösungen, die Times ist mit einem „Wine Club“ unterwegs und die Diversifizierung, so das Fazit der Diskussion, ist noch lange nicht am Ende. Oder, wie es ein Enders Analyst im Rahmen der Londoner Veranstaltung ausdrückte: Verlage müssen zunehmend wie Einzelhändler denken – finde und binde deine Kunden (mit hochwertigen Inhalten) und entwickle darüberhinaus bedarfsgerechte Produkte und Services.
Text: Barbara Geier, www.bconnects.net


Strategie für mehr Online-Leser : Vogues „7-Punkte-Plan“
Von Sarah Marshall, die als Head of Audience Growth für die Entwicklung der Online-Leserschaft aller Vogue-Ausgaben weltweit verantwortlich ist.
1. KPIs festlegen: Anzahl der loyalen Nutzer (mindestens vier Mal im Monat Besuch der Seite), FB-Shares sowie Likes und Kommentare auf Instagram
2. Individuelle Zielvereinbarungen mit allen internationalen Vogue-Plattformen
3. Informationsbereitstellung: Zusammenstellung eines simplen Word Dokuments für alle Redakteure mit einer Übersicht aller wichtigen Punkte und Fragen, z. B. warum sind loyale Leser so wichtig (generieren 90% aller Vogue Page Views)
4. Vier internationale „Growth Days“ pro Jahr: als Training und Weiterbildung für alle Beteiligten
5. Zusammenstellung eines „Growth Books“: Wor den Growth Days muss jeder Chefredakteur/in Beispiele liefern, wie versucht wurde, mehr Leser zu generieren. Diese werden in ein „Growth Book“ gepackt als eine Art „Nachschlagewerk“ zum Wissenstransfer.
6. Länderspezifische „Growth Plans“: Jeder Chefredakteur/in muss einen Wachtsumsplan verfassen, inklusive Contentstrategie, Distributionsstragie und Communitystrategie (Aufbau und Pflege der jeweiligen Vogue-Lesercommunity)
7. Monatliche Reviews: Mails zum Monatsbeginn, die jeden Chefredakteur/in über den Ist- und Soll-Status informieren






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